Hubertus Heil: Die Spaltung überwinden.

Veröffentlicht am 25.10.2006 in Allgemein
Die Kluft zwischen arm und reich, zwischen denen die aktiv am sozialen und am Arbeitsleben teilnehmen und denen, die Hoffnung auf Teilhabe verloren haben, ist groß. Dies kann nicht die Zukunft unseres Landes sein. Was alle Menschen seit Jahren in ihrem Alltag erleben und was auch für Wissenschaftler nicht neu ist, steht nun im Mittelpunkt der politischen Diskussion. Die SPD führt diese Diskussion offensiv, denn die Realität einer Drei-Drittel-Gesellschaft ist für uns alle unübersehbar.

In einem oberen Drittel sind die Menschen recht gut gesichert und haben gute Einkommen. Aber einige von Ihnen wollen den sozialen Konsens aufkündigen. Im mittleren Drittel, der sozialen Mitte unserer Gesellschaft, führt der wirtschaftliche Wandel zu neuen Formen der Unsicherheit. Jobs, die über Jahrzehnte sicher waren, sind bedroht. Lohnkürzungen, Arbeitszeitverlängerungen und Befristungen sind keine Seltenheit mehr.

Im letzten Drittel schlägt Verunsicherung in soziale Unsicherheit oder sogar Ausgrenzung um. Auch hier dürfen sehr unterschiedliche Lebenslagen nicht über einen Kamm geschoren werden. Der langzeitarbeitslose 50-jährige Facharbeiter braucht vor allem einen neuen Job. Das fünfjährige Kind, das als dritte Generation der Familie nur von Sozialleistungen lebt, braucht ganz andere Hilfen.

Soziale Armut in unserem Land hat also viele Gesichter und viele Dimensionen. Sie erfordern differenzierte politische Antworten. Es ist nicht allein die finanzielle Armut, die uns Sorge bereitet. Es gibt einen harten Kern sozialer Armut, in dem fehlende Teilhabe an Bildung, Sprach- und Verhaltensprobleme, Krankheiten und Distanz von der Teilhabe am demokratischen Leben zusammenkommen. Mit höheren oder geringeren Geldzahlungen lösen wir diese verfestigte Armut nicht auf.

Alle diese Formen von Unsicherheit bis hin zu sozialer Armut haben gemein, dass das Prinzip "Leistung gegen Teilhabe" brüchig geworden ist. Zum einen, weil harte Arbeit nicht mehr dazu führt, dass ein gewisses Maß an Sicherheit und die gerechte Teilhabe am Wohlstand garantiert sind. Zum anderen, weil ein großer Teil unserer Gesellschaft gar nicht erst die Chance hat, Leistung zu erbringen.

Wir stellen uns den Realitäten. Seit wir 1998 die Regierungsverantwortung übernommen haben, wurden viele Schritte gemacht. Die SPD-geführte Bundesregierung und Bundeskanzler Gerhard Schröder waren es, die mit dem Armuts- und Reichtumsbericht die soziale Lage in Deutschland offen gelegt hat. Wir haben mit Hartz IV dem Skandal der statistisch versteckten Arbeitslosigkeit ein Ende gemacht. Und wir bekennen uns ausdrücklich zu dieser Entscheidung mit der wir Hunderttausende arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger in die Vermittlung zurückgeholt haben. Dieser Schritt bleibt richtig, auch wenn er mit sozialen Härten für diejenigen verbunden war, die zuvor Arbeitslosenhilfe erhalten haben. Kein vernünftiger Mensch will zurück zum alten Zustand. Jetzt gilt es, noch stärker als bisher, das Fördern in den Mittelpunkt unserer Bemühungen zu stellen.

Wir haben Milliarden für den Ausbau der Kinderbetreuung und der Ganztagsschulen bereitgestellt. Durch eine wachstumsorientierte Wirtschafts- und Steuerpolitik haben wir viel dazu beigetragen, dass die Konjunktur anzieht, dass wieder mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstehen und dass die Steuereinnahmen steigen. Aber: Zur Überwindung der neuen sozialen Spaltung unserer Gesellschaft reicht das nicht aus. Unser Land braucht einen neuen sozialen Aufbruch.

Wir arbeiten für einen vorsorgenden Sozialstaat, der an denjenigen Weichenstellungen des Lebens ansetzt, wo über die Chancen für ein selbst bestimmtes Leben oder die Ausgrenzung von Perspektiven entschieden wird.
Am Anfang gilt es, mit einer frühen und individuellen Förderung bei Bildung und Gesundheit zu verhindern, dass Kindern schon am Start alle Chancen des Lebens geraubt werden. Wo Kinder nur mit Fastfood und Talkshows aufwachsen, produziert unsere Gesellschaft die sozialen Probleme von morgen. Ein bedarfsgerechtes Angebot für die Betreuung von unter Dreijährigen ist dafür ebenso notwendig, wie eine Qualitätssteigerung auf diesem Gebiet. Kindergärten müssen Schritt für Schritt beitragsfrei gestellt werden. Mehr Verbindlichkeit für die medizinischen Vorsorgeuntersuchungen von Kindern ist ebenso notwendig wie eine stärkere Vernetzung von der Jugendhilfe bis zur ärztlichen Versorgung. Sprachförderung vor der Einschulung und das Angebot an Ganztagsschulen sollten ausgebaut werden. Jedes Kind muss unabhängig von seiner sozialen Herkunft die Chancen bekommen, sein Talent zu entfalten und alle notwendigen Voraussetzungen für ein selbst bestimmtes Leben erhalten. Wir dürfen kein Kind zurücklassen.

Unser Ziel ist, dass kein Jugendlicher ohne schulischen Abschluss und ohne Chance auf Ausbildung bleibt. Die 40 000 Einstiegsqualifizierungen für diejenigen, denen unser Schulsystem zu wenig an Wissen und Fähigkeiten vermittelt hat, sind ein erster wesentlicher Schritt. Ausbildungsfähigkeit ist ebenso wichtig wie der Zugang zu beruflicher Erstausbildung und einem gebührenfreien Erststudium.

Über Mindestlöhne müssen wir einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, von ihrer Arbeit auch leben können. Dem in einigen Unternehmen verbreiteten "Jugendwahn", der zum massiven Abbau der Beschäftigung von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geführt hat, muss durch den Abbau von Fehlanreizen begegnet werden.

Besonders für diejenigen älteren Langzeitarbeitslosen, die heute ohne jegliche Chance auf Beschäftigung sind, werden neue Formen von öffentlich finanzierter Arbeit notwendig sein.
Wirtschaftliche Dynamik und soziale Gerechtigkeit sind in modernen Gesellschaften keine Gegensätze, sondern wechselseitige Bedingungen. Ohne Wirtschaftswachstum, zu dem eine aktive Wirtschaftspolitik ihren Beitrag leisten muss, werden wir die sozialen Spaltungen nicht überwinden können.
Arbeit, Bildung und Sprache sowie die Chancen auf ein gesundes Leben bleiben dabei die wichtigsten Felder gesellschaftlicher Integration. Dafür brauchen wir den vorsorgenden Sozialstaat.

Ich bin überzeugt: Die übergroße Mehrheit in unserem Land will sozialen Zusammenhalt. Wir werben für ein breites Bündnis, damit sich Leistung für alle lohnt und sozialer Aufstieg wieder leichter möglich ist. Zu diesem Bündnis gehören vor allem starke Gewerkschaften, die auch in der Tarifpolitik für soziale Teilhabe streiten. Wer den Gewerkschaften das Kreuz brechen will, ist ein Feind sozialer Marktwirtschaft. Zugleich brauchen wir Unternehmer, die ihre ganze Kraft darauf setzen, junge Menschen auszubilden und Mitarbeiter stärker am Erfolg zu beteiligen. Gemeinsam mit Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Vereinen wollen wir Stützpfeiler einer solidarischen Bürgergesellschaft sein.
Wir Sozialdemokraten stellen uns den sozialen Realitäten unseres Landes, um die Verhältnisse zu ändern. Wir sind die Kraft der sozialen Erneuerung.
(Namensbeitrag von Hubertus Heil, SPD-Generalsekretär, erschien in der FR vom 21. Oktober )

 

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